Die richtige Sicherung sollte man unbedingt lernen
Rollstuhlfahrende, die sich noch auf einen Fahrzeugsitz umsetzen können, sollten unbedingt dort befördert werden, weil sie so bei einem Unfall den größten Schutz genießen. Ist das Umsetzen nicht möglich, bieten Rollstühle mit Kraftknoten den größten Schutz. Haben sie das nicht, ist größte Umsicht geboten, um den Rollstuhl und den Fahrgast mit allen verfügbaren Möglichkeiten und Gurten zu sichern. Das war die „rote Linie“, die sich durch das Seminar mit dem Titel „Sicher und gesund arbeiten bei der Beförderung mobilitätseingeschränkter Personen“ zog. Die BG Verkehr veranstaltete es vom 10. bis zum 12. Oktober 2023 im Ferienhotel Stockhausen in Sellinghausen im Sauerland für Unternehmer und Unternehmerinnen, Führungskräfte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit, die in ihren Betrieben das Fahrpersonal schulen. Matthias Koch hatte das Seminar organisiert und Christian Ecke stand ihm als Co-Referent zur Seite. Der in Duisburg stationierte Koch ist Aufsichtsperson in der Präventionsabteilung der BG Verkehr und Fachreferent für die Beförderung mobilitätseingeschränkter Personen (KMP). In dieser Funktion arbeitet er auch im DIN-Normenausschuss für KMP mit. Ecke ist Aufsichtsperson der BG Verkehr in Berlin und Fachreferent für Krankentransport, Rettungsdienst und das Bestattungswesen. Unterstützung bekamen sie von Kai Hemmieoltmanns, Leiter After Sales Hubmatik und Schulungsleiter von AMF-Bruns, und seinem Technischen Berater Jens Specketer.
Mit ihrem Erfahrungsschatz erläuterten zunächst die beiden Referenten der BG und dann Kai Hemmieoltmanns an zwei aktuellen Rollstuhlmodellen im Schulungsraum, dass es bei der Beförderung von nicht umsetzbaren Rollstuhlfahrenden darum geht, den Rollstuhl an vier und die Fahrgäste an drei Punkten zu sichern, was sie als „7-Punkte-Sicherung“ bezeichneten. Nach dem Einfahren in den Heckausschnitt beziehungsweise dem Positionieren in größeren Transportern solle man die Rollstuhlbremse feststellen und den Rollstuhl mit jeweils zwei Retraktoren vorne und hinten sichern. Die hinteren Gurte sollten möglichst in einer Flucht mit dem Rollstuhl liegen, während die beiden Retraktoren vorne möglichst seitlich nach außen versetzt werden, weil das den Rollstuhl in Kurven besser festhält. Die Gurte darf man niemals über Kreuz ziehen, weil der Rollstuhl sonst beim Bremsen zusammengezogen wird. Nach der Gurtbefestigung sind die Rollstuhlbremsen zu lösen und die Retraktoren fest anzuziehen. Danach sollte man die Rollstuhlbremsen wieder feststellen, damit der Rollstuhl beim Lösen am Zielort nicht wegrollen kann.
Bei der Sicherung gibt es viele Haken und Ösen
Bei Fahrzeugen mit Heckausschnitt und elektrisch zu verriegelnden Retraktoren für die Befestigung vorne am Rollstuhl sollte man die schon außerhalb des Fahrzeugs vor der Rampe befestigen. Am sichersten geht das mit der Schlaufen- oder Karabiner-Befestigung. Bei der Hakenversion muss unbedingt beachtet werden, dass dieser richtig eingehakt wird, da er sich sonst bei dem sogenannten Unfall-Rebound (Rückstoß) lösen könnte. „Wenn man den Rollstuhl vorne gesichert und ins Fahrzeug geschoben hat, muss man am Rollstuhl noch einmal kurz ziehen, damit sich die locker aufgerollte Gurtrolle strammzieht. Damit vermeidet man die sogenannte Gurtlose. Somit ist der Rollstuhl vorne im Fahrzeug ausreichend gesichert, und man muss im engen Inneren nichts mehr tun“, sagte Kai Hemmieoltmanns bei den praktischen Übungen an einem VW Caddy Maxi mit Heckeinstieg.
Nach der Sicherung des Rollis folgt die Sicherung des Fahrgasts. Beim Anlegen des Beckengurts sollte man bei ihm auf einen korrekten Sitz auf den Beckenknochen achten, weil sie als die stärksten Knochen des menschlichen Körpers die höchsten Belastungen aufnehmen können. Sitzt der Beckengurt zu hoch, kann es zu schweren inneren Verletzungen kommen. Da man bei dieser Prozedur unter Umständen den Fahrgast berühren muss, besonders in den engen Fahrzeugen mit Heckausschnitt, sollte man ihm unbedingt erklären, was man da gerade tut, um Missverständnisse zu vermeiden. Das gilt auch für den letzten Sicherungsschritt, das Anlegen des Schulterschräggurts. Er muss unbedingt mittig über das Schlüsselbein des Fahrgasts verlaufen, um seine Wirkung entfalten zu können. Keinesfalls darf er über die Armlehne oder die Räder hinweg verlegt werden, sondern er muss immer eng am Körper hinter der Armlehne vorbei verlaufen. Der Beckengurt und der Schulterschräggurt zusammen sind dann eine Art „zweigeteilter Dreipunktgurt“ und sind als Rückhaltesystem mit dem herkömmlichen Dreipunkgurt der Seriensitze vergleichbar. „Der Beckengurt hält uns fest und ist der wichtigste Gurt, den wir haben“, fasste Kai Hemmieoltmanns zusammen. „Ohne straff anliegenden Beckengurt und korrekt verlaufenden Schulterschräggurt rutscht man unter dem Gurt durch. Dieses Submarining droht auch dann, wenn man zum Beispiel als Fahrer in der Eile sein Portemonnaie, sein Handy oder seinen Schlüsselbund in die Jacke steckt und der Gurt deshalb nicht richtig am Körper anliegt.“
Da die Bevölkerung immer schwerer wird und damit auch Rollstuhlfahrende und immer häufiger schwere Elektrorollstühle zum Einsatz kommen, gibt es inzwischen „Schwerlast- oder Heavy-Duty-Retraktoren“, die höhere Gewichte aushalten. Diese bis 160 Kilogramm getesteten Befestigungen sind bereits fester Bestandteil der DIN 75078. Zulässig sind zur Sicherung in solchen schweren Fällen entweder vier Schwerlast-Retraktoren rundum oder zwei von ihnen hinten plus zwei normale vorne.
Mit Kraftknoten arbeitet man auch schneller
Am sichersten, schnellsten und bequemsten lassen sich Rollstühle mit Kraftknoten sichern. Wie ein Versuch der BG Verkehr ergeben hat, braucht man bei ihnen für die Sicherung durchschnittlich rund fünf Minuten, während das bei Rollstühlen ohne sie acht Minuten dauert. Dadurch sind die Knie der Fahrerinnen und Fahrer auch drei Minuten länger belastet.
Manche Rollstuhlhersteller markieren bei Modellen ohne Kraftknoten immerhin die festen Rahmenpunkte, an denen man sie sichern darf, mit einem Hakensymbol. Weil es Fahrdienste aber mit einer Vielzahl von Rollstühlen zu tun bekommen, sollten sie bei ihren Auftraggebern wie Behinderteneinrichtungen oder den Eltern von Schulkindern nachfragen, ob deren Rollstühle für die Beförderung in Fahrzeugen überhaupt zugelassen sind, rieten alle Referenten des Seminars. Eindeutig sind zum Beispiel Typenschilder an Rollstühlen, auf denen ein durchgestrichenes, schematisch dargestelltes Fahrzeug zu sehen ist. Es bedeutet, dass dieser Rollstuhl nicht in einem Fahrzeug eingesetzt werden darf, was heute zum Beispiel für viele leichte Sportrollstühle aus CFK gilt. Sie können schon beim Anziehen der Retraktoren auseinanderbrechen.
Nachfragen muss man auch bei Kopfstützen an den Rollstühlen, die als medizinische Produkte zwar keine Schutzwirkung im Straßen verkehr haben und bei einem Aufprall sogar gefährlich werden können, aber vom Fahrpersonal nicht abgenommen werden dürfen. Erst recht sollte man Eltern und andere Auftraggeber auf die hohe Schutzwirkung von fahrzeuggebundenen Kopf- und Rückenstützen hinweisen, obwohl die nirgendwo vorgeschrieben seien. Diese Systeme, die die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) schon seit 2007 empfehle, verhinderten Schleudertraumata bei einem Heckaufprall, die starke gesundheitliche Beeinträchtigungen und hohe Folgekosten bei der Behandlung nach sich ziehen könnten.
Die Teilnehmer durften selbst Hand anlegen
Schon die Erläuterungen im Seminarraum fielen wegen eines dort aufgestellten Modells eines Systembodens mit einem an einer Säule angebrachten Schulterschräggurt und vieler Beschläge aus dem Koffer von Matthias Koch sehr plastisch aus.
Selbst Hand anlegen und das theoretisch Gelernte in die Praxis umsetzen durften die beiden Damen und elf Herren nachmittags dann in zwei Gruppen aufgeteilt wechselweise an zwei Fahrzeugen: einem VW Caddy Maxi mit Heckausschnitt und einem VW Crafter-Kombi-Ausbau mit dem neuesten Systemboden und einem Hecklift von AMF-Bruns.
Abgesehen von den Sicherungsmaßnahmen für Rollis und Rolli-Fahrgäste bekam die lebhaft nachfragende Gruppe flankierend eine Menge Hintergrundwissen aus der Arbeitssicherheit. So informierten Christian Ecke und Matthias Koch unter anderem zu den sieben Schritten, die zu einer Gefährdungsbeurteilung führen, zu Musterbetriebsanweisungen, Musterchecklisten für die Fahrzeugübergabe von Fahrer zu Fahrer, zu Berufskrankheiten und zur Traumabewältigung mit Hilfe von Experten der BG Verkehr. df
Das elektrische Londontaxi ist nicht DIN-konform
Was bei Kraftfahrzeugen zur Beförderung von mobilitätseingeschränkten Personen (KMP) Stand der Technik ist und bei gerichtlichen Auseinandersetzungen nach Unfällen als Maßstab herangezogen wird, ist die DIN 75078. Sie legt Anforderungen an die Fahrzeuge der verschiedenen Fahrzeugkategorien fest und regelt auch, wie Rollstuhlfahrende und ihre Rollstühle zu sichern sind. „Die Anforderungen dieser DIN erfüllt das Londontaxi nicht, das nach europäischem Recht zugelassen wird“, erklärte Matthias Koch. Der KMP-Fachmann der BG Verkehr wies beim Londontaxi darauf hin, dass bei ihm der Fahrer den Rollstuhlfahrenden ins Fahrzeug hineinschieben und um 90 Grad in Fahrtrichtung drehen müsse, damit sein Rollstuhl und er selbst gesichert werden könnten. Das sei in dem engen Fahrzeug kein Vergnügen und bei Elektrorollstühlen oft sogar unmöglich. Wer nur selten einen Fahrgast im Rollstuhl befördern müsse, könne das sicher akzeptieren. Wer tagtäglich Rollstuhlfahrende als Fahrgäste habe, für den sei ein Fahrzeug mit Heckausschnitt wesentlich bequemer. Auf jeden Fall solle ein Unternehmer in seiner Gefährdungsbeurteilung erst prüfen, ob er mit dem einen oder anderen Konzept besser fahre, bevor er sich für ein Fahrzeug entscheide.
Gurte sollte man regelmäßig säubern
Die Retraktoren, in denen die Sicherungsgurte für Rollstühle aufgerollt werden, funktionieren länger einwandfrei, wenn man die Gurte regelmäßig reinigt. Da bei Fahrzeugen mit Heckausschnitt die beiden vorderen Gurte außerhalb des Fahrzeugs vor der Rampe befestigt werden, können sie Straßenschmutz aufnehmen. Daher sollten sie hin und wieder abgewischt werden. Bei größeren Fahrzeugen mit Hecklift ist die Verschmutzungsgefahr nicht ganz so hoch, aber auch vorhanden, weil ihre Systemböden durch Straßenschuhe verunreinigt werden. Retraktoren, die erst im Fahrzeug angebracht werden, sollte man als Schutz vor Verschmutzungen am besten in einer Box mitführen und nicht einfach lose im Fahrzeug herumliegen lassen. Zu guter Letzt sollte man auch beherzigen, dass die roten Taster an den Retraktoren für die Bedienung mit dem Finger und nicht für die Fußbetätigung gedacht sind. Dann leben sie länger.
Zwei Termine für 2024 stehen fest
Die BG Verkehr veranstaltet solche Rolli-Seminare seit einigen Jahren zweimal jährlich im Frühjahr und im Herbst. Sie richten sich an Multiplikatoren, die in ihren Betrieben das Fahrpersonal schulen. Für die beiden nächsten Termine vom 3. bis zum 5. April und vom 22. bis zum 24. Oktober 2024 kann man sich bereits auf der Homepage der BG Verkehrunter dem Menüpunkt „Seminare buchen“ und der Ziffer 324 anmelden. Sie finden wieder im Ferienhotel Stockhausen in Schmallenberg-Sellinghausen statt Die BG Verkehr übernimmt für Teilnehmende, die in ihren Mitgliedsbetrieben für den Arbeitsschutz zuständig sind, die Seminarkosten, die Unterbringung in Einzelzimmern sowie die Verpflegungs- und die Fahrtkosten.
AMF-Bruns macht auch Schulungen
Als Hersteller von Liften, Systemböden und Sitzen sowie als Umrüster bietet AMF-Bruns Schulungen sowohl im Schulungszentrum in Apen als auch bei größeren Firmen vor Ort an. „Weil wir von Anfragen überrannt werden, können wir aber erst Mitte 2024 wieder Schulungstermine anbieten“, erklärte Schulungsleiter Kai Hemmieoltmanns. Ansprechpartner für solche Schulungen ist er selbst.
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