Fahrbericht Kia EV6: Starke Ansage mit Ausrufezeichen

Zwar teilt sich der EV 6 seine 800-Volt E-GMP-Plattform und einige Details mit dem Ioniq 5, aber Kia hat daraus ein ganz anderes Auto gemacht.

Mit dem EV6 schlägt Kia ein ganz neues Kapitel auf. | Foto: Kia/F. Roschki
Mit dem EV6 schlägt Kia ein ganz neues Kapitel auf. | Foto: Kia/F. Roschki
Redaktion (allg.)
(erschienen bei VISION mobility von Gregor Soller)

Mit dem Ioniq 5 setzte der südkoreanische Konzern ein erstes Ausrufezeichen, das der Kia EV6 nachdrücklich verstärkt: Doch wo beim Ioniq extrem klare geometrische Flächen dominieren und Retro-Anklänge Hyundais Ur-Pony respektive den Austin Princess zitieren, fällt uns beim sportlicher positionierten und abgestimmten Kia EV eher die Corvette C3 ein. Im Vergleich zur Corvette wurde die Haube allerdings massiv gekürzt, dafür gibt es eine zweite Sitzreihe und jede Menge Platz innen. Unter der Fronthaube befindet sich ein Frunk mit 52 Litern, der beim Allradler auf 20 Liter schrumpft – gerade noch groß genug für ein dickeres, längeres Ladekabel.

Steigen wir ein und nehmen erst hinterm Lenkrad und dann in Reihe zwei Platz und machen trotz zehn Zentimeter weniger Radstand als beim Ioniq 5 (2,9 statt 3,0 Meter) einen Haken dran: Es gibt mehr als genug Raum auch für fünf groß gewachsene Passagiere. Dabei lässt sich auch die Lehne der Rücksitzanlage in der Neigung verstellen – von sehr steil bis sehr lümmelig. Einziger Schönheitsfehler: Haben die vorn Sitzenden ihre Sitze ganz nach unten gestellt, bleibt darunter kaum noch genug Höhe für die Füße – wie überhaupt die hintere Bank eher (eine Idee zu) tief eingebaut ist, damit genug Kopffreiheit bleibt.

Vorn hat Kia die zweimal 12,3 Zoll großen Bildschirme samt der Mittelkonsole etwas um den Fahrer herumgruppiert und die Optik im Gegensatz zu Hyundai Richtung BMW getrimmt. Auch bei der Bedienung gönnte sich Kia ein paar eigene Lösungen, die uns persönlich besser gefallen als beim Ioniq 5: So lässt sich die Sitzklimatisierung an einer Leiste vorn an der Mittelarmauflage steuern und muss nicht im Menü gesucht werden und es gibt zwei große Drehregler und Taster unter dem mittleren Screen, die wahlweise der klassischen Klimatisierung oder der Einstellung des Soundsystems dienen. Per Touch-Taster switcht man die Rändel und Schalter zwischen den beiden Modi hin und her.

Doch auch bei der Technik gönnt sich Kia ein paar Eigenheiten: Der große Akku bietet hier 77,4 statt 72,6 kWh, die kleine Version hat auch beim EV6 58 kWh. Während es die kleinere Version nur mit 125 kW (170 PS)-Heckantrieb gibt, wird der 77,4-kWh-Akku auch mit Allrad angeboten. Als Hecktriebler leistet er 168 kW (229 PS), während die Allradversion, die uns für erste Ausfahrten zur Verfügung stand, 239 kW (325 PS) leistet.

Tatsächlich animiert der EV6 eher zu freudiger Fahrweise und gibt sich auch wegen schierer Größe und Gewicht (er wiegt je nach Ausstattung gut 2,1 bis 2,2 Tonnen) nicht ganz so sparsam wie der deutlich ältere E-Niro: Wir lasen am Ende unserer Ausfahrt nicht ganz günstige 23,4 kWh ab. Um auf plus-minus 20 kWh zu kommen, muss man seinen rechten Fuß schon sehr gut im Griff haben. Etwas schade ist, dass die stromsparende Wärmepumpe außer beim GT-Paket 840 Euro extra kostet und der cW-Wert mit 0,28 mittlerweile etwas vom daimlerschen Optimum mit 0,23 entfernt liegt – da hat Kia ein paar Kilometer Reichweite liegengelassen – real wären wir statt gut 500 gut 350 Kilometer weit gekommen.

Das Fahrwerk wurde ganz anders als beim Ioniq 5 abgestimmt

Man hat die Wahl zwischen den Fahrmodi Eco, Sport und Normal, wobei der Taster dafür praktisch links unten ans Lenkrad wanderte. Dazu kommen die üblichen Rekuperationspaddels, die hier vier Stufen schalten. Die Modi beeinflussen die Direktheit der Energieannahme beim Tritt aufs Fahrpedal und die Stärke der Lenkunterstützung – aber nicht das Fahrwerk. Grundsätzlich genügt für den Alltag immer „Eco“, zumal der EV6 per se merklich drahtiger abgestimmt ist als der Ioniq 5 – wie Kia bei Fahrwerk und Antrieb überhaupt großen Aufwand trieb: Bei den Dämpfern nutzt Kia eine frequenzselektive Technologie mit hydraulischem Zuganschlag, heißt: Mit einem zusätzlichen Kolben im Dämpfer kann man abhängig von der Eingangsfrequenz den Druck auf die Zugstufe und damit deren Dämpfungskraft anpassen. Tatsächlich liegt der EV6 merklich straffer und stabiler als der Ioniq5 und bleibt trotz großer Räder noch komfortabel. Nur ganz grobe Unebenheiten geben die großen 20- (optional gar 21-) Zöller eher hart an die Insassen weiter. Die Lenkung des EV6 agiert in Eco etwas großzügiger, wird aber bei „Normal“ und „Sport“ deutlich straffer und direkter – und unterscheidet sich damit ebenfalls merklich vom Ioniq 5.

Die Fahrdynamik unterstützt auch die laut Kia weltweit erste in Serie gefertigte integrierte Antriebsachse (IDA), bei der Radlager und Antriebswelle eine Einheit sind, mit der die Leistung ans Rad übertragen wird. Kia entwickelte hier ein extrem kompaktes Gelenk und die integrierte Radnabe, wodurch Teile reduziert und drei Kilo Gewicht gespart werden konnten. So stieg die Achssteifigkeit um 42 Prozent, was ebenfalls auf das dynamischere Fahrverhalten einzahlt. Außerdem sollen so Defekte zwischen den Verbindungen zwischen Radlager und Antriebswelle verhindert werden.

Die Rekuperation agiert trotz eingeschaltetem Navi nicht automatisch wie bei BMW, sondern will „erpaddelt“ werden: Das reicht von Stufe null (gar keine Rekuperation) bis hin zum One-Pedal-Fahren, wobei man als aktiver Fahrer geneigt ist, selbst immer situationsbedingt mitzupaddeln. Die Vorderräder werden per „Disconnector Actuator System“, kurz „DAS“ bei Bedarf dazu geholt. Grundsätzlich ist der EV6 tendenziell heckbetont ausgelegt und koppelt die Vorderräder bei genug Traktion ab, um so Schleppverluste zu vermeiden. So will Kia auch sechs bis acht Prozent Reichweite gewinnen.

Laden? Gern schnell!

Womit wir beim Laden sind – das schnell geht und gehört zu den größten Stärken des EV6: Mit Gleichstrom (DC) lädt der EV6 mit bis zu 250 kW bei maximal 200 Ampere. Damit kann man den EV6 binnen 18 Minuten von zehn auf 80 Prozent laden oder braucht für 100 Kilometer Strecke rund vier Minuten. Diesen Level soll er bis gut 50 Prozent Akkustand halten – erst dann regelt er die Ladeleistung systematisch nach unten. Bei den „langsamen“ Wechselstrom- (DC-) Ladern mit 50 kW und maximal 125 Ampere dauert die Zehn-auf-Achtzig-Prozent-Marke laut Kia knapp eineinviertel Stunden.

Der EV6 darf er sogar bis zu 1,6 Tonnen schwere Anhänger ziehen. USB-Buchsen gibt es deren vier: Vorn einmal USB A und C und zwei USB-C-Buchsen in den Lehnen der Vordersitze, an denen die Fondpassagiere ihre mobilen Endgeräte laden können. Außerdem ist die Rückenlehne der Vordersitze gleichzeitig Kleiderbügel und in den Taschen darunter gibt es kleine Einsätze als Smartphonehalter. So punktet der EV6 auch mit cleveren Details.

Geliefert wird mit 77,4-kWh-Batterie und Allrad am 23. Oktober 2021 ab gut 44.400 Euro netto. Der Hecktriebler mit 58-kWh-Akku beginnt bei gut 37.806 Euro netto. Damit liegt er rund 2.700 Euro über dem günstigsten Ioniq 5 und bei besserer Ausstattung und etwas mehr Platz rund 6.000 Euro über dem günstigsten VW ID.4, während das Tesla Model Y – allerdings als Allrad – erst bei 47.990 Euro startet. Der günstigste BMW i4 kostet netto nochmal 1000 Euro mehr.

Stärker als bei allen ist die Sieben-Jahres-Garantie über 150.000 Kilometer, die allerdings auch für den Akku gilt. Da bieten manche acht Jahre und 160.000 Kilometer. Ein gutes Angebot ist außerdem Kia Charge: Hier lädt man AC für 0,29 Euro und DC für 0,49 Euro – die monatliche Grundgebühr von 4,99 Euro entfällt im ersten Jahr. Allerdings darf man nur 120 Minuten AC respektive 90 Minuten DC laden. Noch interessanter ist das Angebot mit Ionity, wo im ersten Jahr der monatlichen Power-Tarif von 13 Euro entfällt – dafür lädt man DC für extrem günstige 0,29 Euro! Wobei Kia hier keine Preisgarantien gibt, aber mit dem EV6 so oder so ein starkes Ausrufezeichen gesetzt hat.

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